Wie bei Hempels unterm Sofa

Das unsere Vermieterin a) zu viel Zeit hatte und b) teils ungewöhnliche Ansichten, wusste ich schon aus Erzählungen. Als ich um die Ecke bog, stand sie dann natürlich prompt vor unserem Haus und unterhielt sich mit einem Mann aus der Nachbarschaft. Während sie auf unser Nachbarhaus deutete, versuchte ich mich ungesehen an ihr vorbei zu schleichen. Später stellte sich heraus, dass sie neben Hühneraugen noch über ein drittes Auge am Hinterkopf verfügte. Es war also vollkommen zwecklos ihr entgehen zu wollen. Genauso zwecklos schien mir ihr Vorhaben, das Laub auf dem Gehweg auf einen Haufen zu kehren. Nichts gegen ihren Ordnungssinn, doch schien der böige Wind für eine derartige Tätigkeit nicht geeignet zu sein. Möglich, dass einige Nachbarn sich sogar darüber freuten, dass das Vorhaben misslang. Denn Frau Haas hatte es nicht versäumt alle Blätter, unsere, die des Nachbargrundstücks und der gesamten Straße fein säuberlich über die Grundstücksgrenze hinweg zu fegen. Dort sollten sie wohl liegenbleiben bis sich die Stadtreinigung um sie kümmern würde. Doch wie gesagt, war da noch der Wind…
Es dauerte nicht lange und es klingelte an unserer Wohnungstür. Ein letzter Versuch, Julia öffnete die Tür, aber es half nichts, Frau Haas wollte mit mir reden. „Also ich dachte ja nicht, dass ich das ansprechen muss, vor allem unter erwachsenen Leuten. Sind sie einer von uns?“ Ich hatte keine Ahnung was sie mit diesen Andeutungen meinte. Was wollte sie ansprechen und wer war „uns“. Frau Haas ließ mich gar nicht erst antworten. „Sie sind doch von hier, oder?“ Das ich an der innerdeutschen Grenze aufgewachsen war, schien zu erfreuen. In den letzten Jahren hatte ich öfter die Erfahrung gemacht, dass ich der gezwungenen Ossi-Wessi Diskussion durch diese Ortsangabe geschickt aus dem Weg gehen konnte. Meine Gesprächspartner suchten sich einfach die passende Seite aus. Frau Haas tat es genauso. Für sie war ich ein Kind der DDR. Ein erneuter Versuch auch etwas zu sagen, ging in einem neuerlichen Redeschwall unter. Von Faschisten über Kommunisten und Politiker von heute bis zur Kirche im Allgemeinen, welche blieb dabei außen vor, schwadronierte Frau Haas über den allgemeinen Werteverfall in der Gesellschaft. Auch hier im Haus sei nicht mehr alles wie früher. Sie, ursprünglich drüben geboren, ausgebommt, mit der Mutter geflüchtet, schließlich hier in Lindenau gestrandet und nun direkt vor unserer Haustür, klagte im lila Jogginganzug darüber, dass man heute ja nicht mehr erwarten könne, dass die Hausordnung wenigstens einmal in der Woche erledigt würde. Man müsse schon froh sein wenn der Hausflur anstatt Samstags erst am Sonntag glänzt. Ich versuchte freundlich zu lächeln und die Tragweite des Problems abzuschätzen. Vergeblich. Für Frau Haas hing der Weltfrieden direkt mit dem Zustand der Treppe zwischen zweitem und ersten Stock zusammen. Mochte der Castor rollen, Kinder hungern, ein Heilmittel gegen Alzheimer gefunden werden oder der Messias kommen, die Treppe hatte geputzt zu werden, ordentlich und nicht zu nass.
„Wir wollen doch nicht dass es aussieht wie bei Hemples unterm Sofa. Das verstehen sie doch, sie sind doch einer von uns?“

Hearts are meant to be broken

Käfer

Als er schlaftrunken seine Frau anschaute, ließ der Ekel kleine Blutbahnen in seinen Augen platzen. Käfer sah sie noch eine Weile an, bevor er missmutig ins Badezimmer schlurfte. Vor dem Spiegel überkam ihn erneut der Ekel. Er begann seinen Körper zu begutachten, seine weiße Haut, die vielen Muttermale und seine roten Schamhaare, in deren Mitte sein Penis schlaff herab hing. Wie konnte sie mit ihm schlafen? Wie war es ihr möglich, sich in seiner Nähe aufzuhalten, ohne auf den Boden zu kotzen? Käfer überschlug diese Gedanken kurz in seinem Kopf, kam aber zu keinem brauchbaren Ergebnis. Er fühlte sich wie ein Abziehbild eines Abziehbildes eines Abziehbildes. Wie ein Käfer unter Käfern. Es war egal, ob jemand diese Ansicht mit ihm teilte. Wenn dieser Gedanke, nicht in Worte gefasst, einzig in Gefühlen über ihn hereinbrach, kam der Ekel.

You Jin

You Jin war ein lebender Buddha mit langen schwarzen Haaren. Sie trug Hotpants und einen grauen Sweater, der einen großen Teil ihrer braunen Oberschenkel überdeckte. Die Leute zerrissen sich genauso gerne das Maul über sie wie You Jin über ihre Torheit lachte. Tauchte sie irgendwo auf, wurden Frauen misstrauisch und Männer lachten zu laut über ihre eigenen Witze. Manche mokierten sich über ihr selbst gestochenes Tattoo “Hearts are meant to be broken!”, dass in ihrem Ausschnitt prangte. Gestern waren ihre Brüste Thema und die Tatsache, dass sie keinen BH trug, während es Vorgestern ihre langen braunen Beine waren. Der neugierige Pöbel auf der Straße fand immer etwas, an dem er Anstoß nehmen konnte. You Jin jedoch kannte als Antwort nur das helle Stakkato ihres Lachens.

Käfer

Ihm war langweilig, was nichts Besonderes war, denn im Grunde langweilte ihn seine Arbeit täglich neun Stunden lang. Mit seinem Kopf auf die linke Hand gestützt, saß Käfer an seinem Schreibtisch und starrte ins Leere. Seine Lider begannen immer öfter zu zittern und er drohte jäh in einen unruhigen Halbschlaf zu sinken. Sie hatte sich auf einen Drehhocker gesetzt und ihre Beine übereinander geschlagen. Ihr grauer Sweater lag nicht unweit von ihr auf dem Boden. Käfer war irritiert, er wusste nicht wo er war und noch weniger was zum Teufel er hier machte. Was ihn jedoch am meisten verunsicherte, war die halbnackte Frau, die vor ihm auf einem Stuhl saß. Immer wieder drehte er sich nervös um, um andere Zuschauer ausfindig zu machen. Aber da war niemand. Nur diese Frau. Sie saß vollkommen unbeteiligt da und drehte sich langsam im Kreis. Käfer gierte nach jedem Teil ihres Körpers und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit seinen schwitzigen Händen ihre Haut zu berühren. Beim Anblick ihrer dunklen Nippel bekam er eine Erektion und ein dünner Speichelfaden lief aus seinem halb geöffneten Mund. Abrupt drehte er sich um. War dort jemand? Nein, Käfer war allein mit ihr und seiner Wahnvorstellung, sie zu besitzen. Er wollte an ihren langen Haaren reißen, ihre schlanken Handgelenke verdrehen und den Schmerz in ihren Augen sehen. Er wollte Macht. Macht über sie, um sein eigenes kümmerliches Dasein und den Ekel, das es ihm bereitete zu vergessen.

Immer unruhiger drehte sich Käfer um seine eigene Achse. Er konnte seine Augen nicht von ihr lassen, sah aber gleichzeitig sich bewegende Schatten in seinen Augenwinkeln. Sie zu berühren, wagte er nicht. Aber noch weniger behagte ihm die Vorstellung, dass sich eine dritte Person im Raum befand.

Birch

Birch war 93. Wenn sie auf ihren Stock gestützt durch die Straße schlurfte, war sie trotz ihres Buckels immer noch einen Kopf größer als der Rest der Leute. Diese Tatsache brachte ihr außer einigem Gelächter auch den Spitznamen “Tante Giraffe” ein. Sie war ein merkwürdiger Kauz aber ein essentieller Teil des Viertels. Jeder scherzte mit ihr, man neckte sie, aber niemand beleidigte sie ernsthaft. Hinter vorgehaltener Hand erzählten sich die Leute allerhand merkwürdige Geschichten, die, obwohl nicht nachprüfbar, sich langsam zu Legenden verhärteten. Manchmal kam es vor, dass Birch lauthals zu singen begann. Ihre spinnenartigen Finger gaben dann den Takt an, während aus ihrer dürren Brust ein trockener und voluminöser Bass drang. Angeblich sang Birch, von sich selbst am Klavier begleitet, ab und zu in einem Nachtclub. Angeblich!

Käfer

Als er aufwachte rannte Käfer ohne ein Wort der Entschuldigung aus seinem Büro. Nach mehr als drei Stunden Herumirrens blieb er abrupt stehen. Seine Schläfen pochten und in seinem Mund machte sich ein kalter metallischer Geschmack breit. Aber sie war es! Nicht halbnackt wie in seinem Tagtraum, sondern mit einem grauen Sweater, Hotpants und Flip Flops bekleidet. Käfer folgte ihr so unauffällig wie möglich. Zumindest glaubte er fest daran. Stattdessen war er ein sabbernder Hampelmann mit weit aufgerissenen Augen.

Nachdem sie in einem Hauseingang verschwand, begann Käfer in einer Toreinfahrt auf sie zu lauern. Ein paar Mülltonnen boten genügend Schutz vor den neugierigen Blicken vorbei eilender Passanten.

Immer wieder wischte er sich den Schweiß von der Stirn oder kratzte sich nervös am Unterarm. Bilder platzten wie Seifenblasen vor seinen Augen, in denen sie sich unablässig nackt auf einem Stuhl vor ihm drehte. Er musste blinzeln und ihre Gestalt verschwand und machte anderen Frauen Platz. Käfer sah sich in ihren Augen spiegeln. Sie litten und er war der Grund dafür. Ein Schimmer einer Erinnerung leuchtete in ihm auf und er wusste plötzlich, dass er einer Wiederholung beiwohnte.

Birch

Birch schloss ihre Augen und sog die Nachtluft tief in ihre Nasenlöcher ein. Der Mann im Schatten der Mülltonnen, den sie schon eine ganze Weile beobachtete und der sie anscheinend nicht bemerkt hatte, roch wie ein läufiger Kater, dessen Eier auf die doppelte Größe angeschwollen waren. Leise summte sie und sang vor sich hin: “I’m her yesterday man!”

Käfer

Käfer glaubte sich allein. Er bemerkte nicht einmal die Hand, die sich auf seine Schulter legte. Als er Birch angrinste war er mit seinen Gedanken dermaßen weit weg, dass er wieder anfing zu sabbern. Wer sich mit ihm unterhalten wollte, musste Käfer tief in seinen Traum folgen.

Birch

Birch kannte diesen Traum. Sie musste über die Vorstellung schmunzeln, sie würde in ihm auftauchen, mit 93 Jahren und weit davon entfernt der erotische Nabel der Welt zu sein. In diesem Augenblick kam es ihr so vor, als würde sie einen kleinen Jungen ins Bett bringen. Und mehr war dieses Häuflein Elend vor ihr auch nicht, ein kleiner Junge, in manchen Dingen äußerst gefährlich aber ansonsten eher harmlos. Birch legte eine Hand auf seine Schulter. Mit der anderen Hand bedeckte sie seinen Mund, ganz so als wollte sie ihn daran hindern, ein unanständiges Wort auszusprechen.

Käfer

Käfer registrierte nicht im Geringsten die Anwesenheit der alten Dame. Sein Herumdrehen war nicht mehr als ein Reflex und selbst dann versuchte er immer noch den Hauseingang im Blick zu behalten, in dem You Jin verschwunden war. Erst die Berührung von Birch’s Handfläche auf seinen Lippen zerrte seine gesamte Aufmerksamkeit in die Toreinfahrt zurück. Er wusste im ersten Moment nichts mit dieser Situation anzufangen. Anscheinend summte die Alte einen albernen Popsong: “I’ am her yesterday man”. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Käfer das absurd und zum Lachen gefunden, aber das hier war alles andere als lustig. Seine Angst, entdeckt zu werden, begann Gestalt anzunehmen. Zu einer Kugel verdichtet, rollte sie langsam von Birch’s Hand auf seine Zunge.

Käfer

Es hätte niemals passieren dürfen, Niemand außer ihm und der dunklen Schönheit durfte hier sein, Niemand durfte ihn sehen, Niemand bei dem zusehen, was passierte. Und nun war sie hier, diese dümmliche Alte. Zu allem Überfluss, hatte sie seine Angst in seinen Mund gestopft. Käfer versuchte krampfhaft nicht zu schlucken. Aber es half nichts! Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und seine Eier schrumpften schmerzhaft auf die Größe von Rosinen zusammen. Er konnte fühlen wie der Kugel Angst Haare wuchsen und sich ruhig acht dünne Beinen entrollten. Zum Leben erwacht, krabbelte die Angst tief in seine Eingeweide. Käfer wollte schreien, aber nicht der geringste Laut drang über seine Lippen. Jeder Schrei prallte an einer unsichtbaren Mauer ab und hallte tausendfach in seinem Inneren wieder. In seiner Magengrube angekommen, teilte sich die Kugel wieder und wieder. Überall in seinem Körper fühlte er, wie die hauchdünnen Spinnenbeine sich bewegten. Käfers Ohren waren von seinem eigenen Schreien erfüllt. Mit angsterfüllten Augen sah er, wie er sich beschmutzte und wie seine Beine unter ihm zusammenbrachen.

You Jin

An eine Mülltonne gelehnt, schaute You Jin interessiert auf Birch und den am Boden liegenden Käfer herab. In einer einzigen fließenden Bewegung kniete sie sich neben ihn und schwebte lächelnd über seinem Gesicht. Ihre Züge waren die eines Engels. Für Käfer waren sie der blanke Horror. Er schrie und schrie, selbst als You Jin seine Stirn küsste und mit leicht amüsierter Stimme in sein Ohr flüsterte:“Hearts are meant to be broken!”

Käfer

Käfer sah die Decke an und begann leise zu singen:

Please tell me something have you met an angel
someone too lovely to live on earth
well yesterday I thought I met an angel
but she wasn’t worth all she seemed to be worth
and oh what a fool I have been
I was sure taken in I’m her yesterday man
well my friends that’s what I am