Die Wolken waren unentschlossen zu verschwinden oder träge dazuliegen. Der Wind wehte mit letzter Kraft und stolperte über Schornsteine und laublose Bäume. Auf der verstopften Straße wäre er vollends liegen geblieben, gejagt und gequält vom beißenden Gestank der Automobile.
Ich stand an einer Ampel. Mein Blick lag auf einem roten Farbfleck auf der anderen Straßenseite. Meine Beine zitterten vor Anstrengung, in jeden Moment bereit, sich für mich durch das reißende und knurrende Eisenbündel zu kämpfen. Wollte man in dieser Stadt eine Straße überqueren, musste man Wagnis, Schnelligkeit, Unverschämtheit und einem Schuss Todesmut, garniert mit wilden Flüchen, die man dem erstbesten hupenden Auto entgegenwerfen konnte, aufbringen. Ich schützte mich in einer Gruppe Todesmutiger – diese Irrfahrt alleine zu wagen glich im Großen und Ganzen dem Wunsch nach Selbstmord. Die Ampel schaltete von rot auf grün aber der Strom schwarzer Reifen riss nicht ab. Schon beugten sich die ersten Körper nach vorne. Wie ein Albatros das Fliegen durch den Sturz aus seinem Nest in die Tiefe lernt, so kippten sich die Mutigsten von der Bordsteinkante hinab. Ein wüstes Hupen brach über sie herein. Sie schoben mit aller Kraft ihre Hände und Arme dagegen, kletterten über Stoßstangen, Motorhauben, Kofferraumklappen. Den wilden Verwünschungen spuckten sie heftigere entgegen, die den Empfänger samt seiner Familie und der folgenden einhundert Generationen trafen.
Bald begannen auch die Zögerlichsten auf die Straße zu laufen. Ich spürte ihren Willen zum Übersetzen auf die andere Seite am Druck auf meinen Rücken. Doch obwohl ich mitten im Weg stand, schob sich die Menge an mir vorbei. Ich musste mich nur leicht von links nach rechts wiegen, um dem Vorschnellen der Körper auszuweichen. Die ersten Überläufer von der Gegenseite erreichten mich und das Gedränge wurde ungemein heftiger. Ich fühlte meinen ganzen Leib geschoben, gedrückt und in verschiedene Richtungen gezerrt. Einen letzten Augenblick wehrte ich mich noch, dann trieb ich mit. Sofort verlor ich mich in eine andere Welt. Das schützende Land lag nur ein paar Schritte entfernt, nicht mehr als ein Katzensprung. Doch ich war keine Katze! Wenn, dann höchstens eine ängstliche, die eine geballte, sich verdichtende Anspannung wahrnimmt, jeden Moment bereit loszubrechen, um sich über alles hinweg zu wälzen was sich ihr in den Weg stellte. Die Fahrer der Automobile starrten gebannt auf einen Punkt über meinem Kopf. Diese Schicksalssonne, deren roter Schein uns schützte während ihr grünes Feuer jedem Angst und Schrecken über die Glieder jagt, der nicht am sicheren Ufer eines der Bürgersteige angelangt war. So sehr mir all das bewusst war, kümmerte ich mich doch wenig darum. Ich folgte der Frau vor mir, die jemand anderem folgte, der jemand anderem folgte- und immer fort bis sich der Strom an Menschen verlor. Unsere Schritte waren nicht gleichmäßig. Ein Stolpern folgte einem Ausweichen, einem Schwenk nach links einer nach rechts. Die sich entgegenkommenden Menschen schienen ihren Spiegelbildern auszuweichen. Alle suchten den schwarzen Teerfluss mit seinem Treibholz aus Metallkarossen unbeschadet zu überwinden.
Mein Blick blieb auf den Schuhen der vor mir Laufenden gerichtet. Kaum dass ich aus Angst vor einem Zusammenstoß in ein Gesicht schaute. Die Welt schien nur noch aus amputierten Gliedmaßen zu bestehen, die auf der Suche nach ihrem Besitzer waren oder alleine einen Spaziergang machten. Hier und da glimmte kurz ein Torso auf.
Ich begann über unsere Begegnung nachzudenken. Im Nachhinein fiel es mir immer schwerer, sein Wesen genau zu beschreiben. Mein erster Gedanke galt schon damals einem Engel. Das mitleidige Lächeln und sanfte Schulterklopfen von Freunden ließen mich später zweifeln. Bekannte fragten mich, ob ich meinen neuen Freund den Engel nicht einmal mitbringen wollte, um ihn allen vorzustellen. Es war zum Kotzen! Die Angst vor weiteren Demütigungen verfärbte das Bild meiner Begegnung zunehmend grauer bis er sogar in meinen eigenen Erinnerungen zu einem gewöhnlichen Menschen verschwamm. Doch, wenn ich mit mir alleine war, wichen die Zweifel. Ich kannte die Bilder von Engeln, die Vorstellungen der Menschen von ihnen. Blonde Locken, einem schimmernden Heiligenschein und den weißen Flügeln, die immer aussahen als seinen sie nur dürftig am Rücken angeklebt worden. Mein Engel war anders. Aber wie war er wirklich? Zu den aufgezwungenen Zweifeln stolperte ich immer wieder in die Falle meiner eigenen Erinnerungen. Sie hatten mich schon oft getäuscht – warum nicht gerade auch in diesem Moment?
Auf der schwarzen Teerstraße, die von den Füßen und Beinen der Überquerenden zerschnitten wurde, blickte ich plötzlich auf. Ein weiter brauner Umhang waberte an mir vorbei. Er reichte seinem Träger von den Schultern bis zu den Fußknöcheln, war aber an den Armen ein wenig zu kurz geschnitten, als hätte selbst der Schneider nichts von der Größe geahnt, die der Stoff bedecken sollte. Sein Träger war groß und schlank. Dabei schien alles im gleichen Maß vergrößert worden zu sein: die Arme, die Beine, die Finger, die Nase, die Augen. Alles schien ein Stück aus dem Normalen herauszuragen, noch nicht riesenhaft aber eben doch auffällig groß. Am meisten mochte ich seine Hände. Sie waren lang und schmal. Grazil und kräftig zugleich mit einer wohligen Geborgenheit, die von ihnen ausging. Die Hände hätten Vögeln ohne großes Aufsehen die Flügel brechen können. Doch dazu waren sie nicht da. Stattdessen bildeten sie eine Theaterbühne, auf der ein Spatzenpaar ihren Walzer fern von Katzenkrallen tanzen konnte. Die Hände hätten sich über dieses Schauspiel bestimmt köstlich amüsiert. Und die Freude wäre dem Fremden über die Arme auf das Gesicht übergesprungen.
Obwohl ich immer glaubte, dass ich das Gesicht nie vergessen würde, begann es sich rasch aufzulösen und in einzelne Teile zu zerfallen. Ich versuchte es wieder zusammenzusetzen, doch immer wieder beschlich mich der Verdacht andere Erinnerungssplitter mit einzumischen. Das Mosaik, zu welchem sein Gesicht wurde, schien nie wieder dem Original zu gleichen. Vielleicht verlieren wir so all unsere Erinnerungen?
Wenn ich so zurückblicke, dann weiß ich nicht ob seine Haare braun waren, die Augen grün oder blau? Mag sein, er hatte eine Hakennase, vielleicht hervortretende Backenknochen oder ein rundes Kinn. Mit Sicherheit strahlte sein Gesicht vor Freude – eine irre Freude! Seine Augen blitzten, selbst jetzt am Tag und bohrten sich in die Tiefe meiner Pupillen. Wo bei mir Angst und Zweifel standen, lag bei ihm ein unbeugsamer Wille. In einem Augenblick hätte er ein weinendes Kind wieder zum Lächeln gebracht, um im nächsten Moment die Krähen aus den Bäumen aufzuscheuchen, so kalt und unbarmherzig konnte er lachen.
Als ich ihn traf, waren die Wogen in seinem Gesicht geglättet. Heute war ein Tag an dem die Spatzen auf seinen Händen tanzten und er jedem ein Lachen schenkte, der dieses Geschenk annehmen mochte. In dem Moment an dem wir aneinander vorbeischritten, vergaß ich wo ich war. Ich folgte seinem Gang, seinen Bewegungen, dem Zusammenspiel der Muskeln und Sehnen, die sich unter seiner Gesichtshaut spannten. An seinem Blick entlang zog es mich mit einem Ruck von der Straße. Das Fluchen von den mir folgenden Passanten verhallte. Ohne erkennbaren Grund drehte er sich im Vorbeigehen mit seinem Gesicht und deutete mit einem Arm an einem Punkt, außerhalb meines Gesichtsfeldes. Ich folgte der Bewegung seines Armes, ohne mir der Bedeutung der Geste bewusst zu sein. Vor ihm lag die Straße, die in einen gewaltigen runden Platz mündete. In der Mitte befand sich ein von Möwen vollgeschissenes und ein paar Bäumen umstandenes Denkmal. Das schwarze Straßenmeer dampfte und es roch nach Regen. Hier und da glänzte eine Wasserlache in den Strahlen der Sonne. Es schien als würde sie die Schwärze des Teers direkt in den Himmel saugen und ein durchsichtiges Glänzen zurücklassen. Durch einen merkwürdigen Schicksalsstreich schienen alle Ampeln auf rot geschaltet, wodurch sich kein Auto auf dem Platz befand. Über allem wölbte sich unruhig ein zitternder Himmel. Wolken ballten sich zu schwarzen Türmen durch die die Sonne ab und an durchbrach. Plötzlich sah ich durch seine Augen. Der Platz vor mir verschwamm und wurde wieder scharf. Einzelne Details wurden gegen andere ausgetauscht oder die ganze Szenerie wechselte mit einem Schlag. Die Häuser zerfielen zu Staub, aus dem die Sonne eine Wüste brannte. Dort, wo gerade der Sand ein aufgewühltes Meer bildete, war bald ein Ozean aus Wasser. Aus der blau schimmernden Wasserfläche schossen plötzlich Bäume, in denen sich der Wind verfing. Er trieb Rauch vor sich her und alles schien in Flammen aufzugehen. Der ganze Wald fing Feuer und bildete weite Flächen aus Qualm. Aus ihm wurde Stein, beschmiert mit Blut. Menschen liefen über die Fläche. Mal wenige, mal Tausende. Ich sah sie entstehen und vergehen. Aus dem weißen Staub ihrer Knochen entstanden immerfort neue Skelette. Sie fielen sich in die Arme, begannen sich gegenseitig zu würgen und mit Schwertern zu enthaupten. Dann würgte die Erde und spie Schlamm über die Verdammten. Blumen blühten auf den Gräbern und die Grabsteine häuften sich zu Bergen hinter denen die Sterne verschwanden. Ich wollte die Augen schließen, aber es waren nicht mehr meine mit denen ich all dies sah. Die Flut der Bilder drückte mich langsam zu Boden in ein grenzenloses Schwarz. Ein dunkler Schatten aus Millionen kleiner Steine, das Schwarz der Straße unter meinen Füßen. Plötzlich tauchte direkt vor mir eine blutrote Scheibe auf. Sie schien direkt aus dem dunklen Grund gewachsen. Zwischen zwei Wimpernschlägen tauchte eine zweite auf und verschmolz mit der ersten. Zuerst bildeten sich zwei scharf abgegrenzte Kreise, die sich in der Mitte nach außen wölbten. Sie näherten sich still aufeinander zu bis sie sich in einem einzigen winzigen Punkt berührten und ineinander flossen. Ich schloss wieder die Augen und versuchte die Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen. Ich kniff so fest meine Lieder zusammen, dass alles in einem schwarzweißen Funkenregen flimmerte. Als ich die Augen wieder öffnete, schienen die Scheiben geschrumpft und nicht größer als ein Fingernagel, doch trat eine weitere hinzu. Wieder schloss ich die Augen. Größe und Anzahl hatten sich wieder verändert. Ich fühlte Schwindel und etwas lief über meine Lippen. Meine Hände wischten sich rot am Blut das aus meiner Nase tropfte. Auf der Straße bildete es winzige Inseln, die im Teer versanken. Ich schaute verwirrt nach oben. Von meiner Nase und meiner Hand lösten sich synchron zwei Blutstropfen. Als sie meinen Hals passierten, schaute ich der Sonne entgegen, an der Wölbung meines Bauches kreuzte ein Mann mit einem alten rissigen Koffer meinen Blick, bei meinen Knien wechselten rote Ampeln in grüne und grüne in rote, die Automobile stürzten los und ihre Reifen überfuhren die Tropfen mitten auf der Straße. Metall streifte mich, beißender Qualm drang durch ein Orgelkonzert tollwütigen Hupens in meine Nase. Ich torkelte zurück. Tropfen von Blut fielen von meinem Kopf auf die Straße. Auf dem Bürgersteig waren sich die Blicke der Menschen nicht sicher, ob sie sich angewidert abwenden oder sich im neugierigen Gaffen ergötzen sollten. Das Blut gerann und bildete eine hässliche Kruste. Ich versuchte meine Besinnung wieder zu finden, wich aber nur wie ein geschlagener Hund den Blicken der Menschen aus. Sie jagten mich und waren sie einmal von ihrem vorherigen Besitzer gelöst, verfolgten sie mich wie tolle Hunde ihre Beute. Selbst hinter Häuserecken spürte ich sie. Ich kotzte an eine mein ganzes Frühstück vor eine Mülltonne. Unvermittelt schob sich eine Hand mit einem Taschentuch in mein Gesichtsfeld. Eine wunderschöne Hand aus einem viel zu kurzen braunen Umhang. Ich wagte nicht aufzuschauen. Die Bilderflut schwappte wieder hervor und ließ mich Galle spucken. Ich begann am ganzen Körper zu zittern. Vorsichtig griff ich nach dem Taschentuch.
Die Zeit zog vorbei. Ich fühlte mich nutzloser als der Müll in den Tonnen. Irgendwann drehte ich meinen Kopf vom Boden und starrte unverwandt den Himmel an. Mit einer blutverkrusteten Nase und einem übelriechenden Geruch, der mir aus Mund und Nase kroch, machte ich mich wieder auf die Suche. Ich wollte nicht mit der Erinnerung an den Tagtraum alleine sein. Vielleicht wollte ich mich auch einfach nur vergewissern, dass es nur ein Traum gewesen war, ein kurzes Flimmern in der Luft, in das aus meinem Bewusstsein unzusammenhängende Bilder gefallen waren.
Schlürfend zog ich über den Bürgersteig. Mein Zustand ließ nicht auf die Begegnung mit einem Engel schließen. Damals hatte ich diesen Gedanken noch nicht gefasst. Er lag irgendwo an der Grenze zwischen möglich und unmöglich. Mag sein, er entstand erst aus den Widerständen, die mir meine Freunde entgegen brachten.
Die Stadt wimmelte von Menschen. Sie schlängelten sich kreuz und quer auf unsichtbaren Linien ihren Zielen entgegen. Überall trafen mich abschätzige Blicke, die mich wie Straßenköter ankläfften. Manche fielen mich unvermittelt an und bissen mir in die Seite. Die Abscheu der Leute ließ ein wenig freien Raum, in dem ich hintreiben konnte. Die Straßen wurden enger und die Häuserwände begannen die Bewegungen in immer kleinere Räume zu zwängen. Die Menschen bewegten sich gleichberechtigt mit den Autos auf der Straße. Ein Treffen von zweien schien ausgeschlossen, trotzdem bewegte sich der Verkehr in beide Richtungen.
An einer kleinen Straßenkreuzung wurde ich fündig. Zwei Straßen bildeten hier zusammen ein T. Der Querbalken war uninteressant. In ihm befand sich ein kleiner Lebensmittelladen. Ihm gegenüber standen sich die Eisenstühle eines Straßencafés die Beine in den Bauch. Die Sitzkissen leuchteten in einem aufdringlichen gelb, das dem Café auch die letzten sympathischen Züge raubte. Die andere Straße stieg leicht bergan oder bergab, je nachdem von welcher Seite man in sie einbog. Dort befanden sich ein Teppichladen und ein Hotel, dessen Eingangsschild golden funkelte. Im Trubel der Straße gefangen, befand sich mein Engel mit einem Handkarren auf der Kreuzung. Er stand auf einem kleinen Rest Bürgersteig nur eine Handbreit von den vorbeifahrenden Autos entfernt. Hinter einer Glasscheibe lag Gebäck zu kleinen Türmen gestapelt dazu ein paar zerknitterte Scheine und wenige Münzen. Passanten nickten einen Gruß und zeigten auf das gewünschte Stück. Alte Zeitungen dienten dem Engel als Einschlagpapier. Die Packungen aus Zeitung und Zuckerteig verschwanden in Jackentaschen und Hosentaschen – dreckige Geldscheine krochen dafür aus Hemdtaschen, Anzugstaschen während das Wechselgeld zurück in Manteltaschen oder Rocktaschen tauchte.
In den Falten seines Umhangs hatten sich ein paar Krümel verlaufen. Sie erinnerten mich sofort an die tanzenden Spatzen in seinen Händen. Ich trat vor seinen Wagen und bat um einen runden Teiggringel, eingedeckt in Puderzucker, bedeutete ihm jedoch gleich, er müsse kein Zeitungspapier drumherum schlagen. Ohne Worte zu tauschen, vollführten wir ein kompliziertes Ritual, in dem unsere Hände umeinander tanzten und wir die Dinge untereinander austauschten, als seinen es Geschenke. Ich stand selbstvergessen neben dem Wagen. Das Straßenleben zog an uns vorüber und es war, als wären wir zwei alte Bekannte, die sich zufällig auf der Straße begegnet waren. Manchmal spürte ich seinen Blick auf mir ruhen, drehte mich aber aus Verlegenheit nicht um.
Selbstverloren starrte ich gebannt auf das Leben, dass sich mir darbot. Wieder erschien mir alles wie Bilder, die auf einen schwarzen Grund gemalt waren. Ich wollte mich dem Engel durch ein Lächeln kundtun. Doch er hatte seinen Karren bereits auf einen anderen Weg gelenkt. Ich habe immer wieder Ausschau gehalten nach einem brauen Mantel, Händen auf denen die Spatzen tanzen und einem Lächeln zwischen Sanftmut und Gewalt. Würde ich ihn wieder sehen, ich würde fragen wie die phantastischen Visionen über dem Nichts eines großen Platzes mit seinen Gebäckstücken verbunden sind.